05.04.2023

Chancen oder Fallstricke? - Ein amerikanischer Blick auf die Zeitenwende

Noch ist mit Joe Biden ein überzeugter Transatlantiker US-Präsident. Deutschland sollte diese Chance nutzen und die Zeitenwende konsequent vorantreiben. Denn mit dem Wahlkampf 2024 könnte ein anderer Wind über den Atlantik wehen, prognostiziert Rachel Rizzo.

 

Bundeskanzler Olaf Scholz weckte im Februar 2022 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit seiner Zeitenwende-Rede hohe Erwartungen. Er läutete eine neue Ära in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein. Dabei waren viele Beobachter_innen überrascht von Scholz' hochgesteckten Zielen, die Bundeswehr mit einem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen auszurüsten und die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen. Die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern sollte in Europa gebaut werden. Neue LNG-Terminals sollten Deutschland schnellstmöglich von russischen Energielieferungen unabhängig machen. Über ein Jahr später dauert der Krieg weiter an, und die Zeitenwende hat ein Eigenleben entwickelt.

Der Begriff „Zeitenwende“ steht mittlerweile für den umfassenden Eindruck, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas und viertgrößte der Welt seine Rolle in der Welt neu denken muss. Konkret muss es einen strategischeren Blick entwickeln, seine militärischen Verpflichtungen ernster nehmen und als Führungsmacht die europäische Außen- und Verteidigungspolitik auf der Weltbühne aktiver mitgestalten. Während Deutschland sich dieser neuen Verantwortung langsam bewusst wird, steuern die USA auf die Wahlen im Jahr 2024 zu. Beide Seiten sollten sich über die damit einhergehenden möglichen Fallstricke im Klaren sein.

Unter Präsident Biden ist die Beziehung zu Deutschland zentral für Amerikas Europapolitik

Bei seinem Amtsantritt war die Verbesserung eines seiner zentralen außenpolitischen Ziele von US-Präsident Joe Biden. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen standen dabei mehr oder weniger im Mittelpunkt. Seine Haltung gegenüber Deutschland nach der russischen Invasion – und auch unmittelbar davor – zeigte deutlich, welche Bedeutung er der Beziehung zumisst. Während Olaf Scholz' Antrittsbesuch in Washington Anfang Februar 2022 bedachte Biden ihn mit anerkennenden Worten, obwohl der deutsche Kanzler für seine „Vogel-Strauß-Politik“ gegenüber Russland heftig kritisiert wurde (zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland noch nicht einmal die Genehmigung der Pipeline Nord-Stream 2 gestoppt). Auch als Deutschland sich sträubte, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, übte die Biden-Administration sich in Geduld und erklärte sich schließlich (gegen den Willen hochrangiger US-Verteidigungsbeamter) bereit, auch ihrerseits Kampfpanzer vom Typ M1 Abrams bereitzustellen. Nur damit Deutschland „die Leoparden freilassen“ konnte.

Auch zum deutsch-chinesischen Verhältnis hüllt sich die US-Regierung größtenteils in Schweigen – selbst, als Scholz im November mit einer Wirtschaftsdelegation nach Peking reiste und beschloss, dem chinesischen Schifffahrtsgiganten COSCO den Erwerb von Anteilen an einem der Hamburger Hafenterminals zu gestatten. Beobachter_innen in den USA werteten all dies als Beweis für Deutschlands Kraftlosigkeit und fehlende strategische Seriosität. Das Land sei nicht gewillt, die Führungsrolle zu übernehmen, die es eigentlich übernehmen müsste. Bei vielen politischen Entscheidungsträger_innen in den USA – insbesondere auf dem Capitol Hill – macht sich derweil unterschwellig Frustration breit. Sehr viele fragen sich: „Warum Deutschland nicht mehr tut?“, „Warum Deutschland nicht schneller vorankommt?“ und „Warum übernimmt Deutschland keine Führung?“.

Andererseits begreifen in den Vereinigten Staaten anscheinend nur wenige, was für ein tiefgreifendes Umdenken die Zeitenwende für Deutschland bedeutet. Politiker_innen und Expert_innen (insbesondere diejenigen, die sich nicht gezielt mit Deutschland befassen) sollten verstehen: Es ist nicht damit getan, dass Deutschland mehr für Verteidigung ausgibt, sein Militär ausrüstet oder sich von der russischen Energieversorgung abkoppelt – so wichtig diese Themen auch sind. Darüber hinaus muss Deutschland als Ganzes eine neue Mentalität entwickeln, was seine Rolle in Europa und auf der Weltbühne angeht. Deutschland verdient Anerkennung für das, was es bisher erreicht hat, und Verständnis dafür, wie schwierig die Situation derzeit tatsächlich ist. Und vor allem verdient Deutschland: Geduld. Der tiefgreifende Wandel, den die USA sich von Deutschland wünschen, wird sich nicht von heute auf morgen und wahrscheinlich nicht einmal in den nächsten Jahren realisieren lassen. Jedoch scheint der Wandel wenigstens in Gang zu kommen, und das ist gut so.

 

Es besteht das Risiko, dass Deutschland ein Thema im amerikanischen Wahlkampf wird

Auf der anderen Seite muss Deutschland sich darüber im Klaren sein, dass sein Verhalten, im Wahljahr 2024 und darüber hinaus ein wichtiges innenpolitisches Thema in Amerika werden könnte. „Zeitenwende“ könnte zu einem Begriff werden, der stellvertretend für tiefer liegende Probleme in den amerikanisch-europäischen Beziehungen steht – zum Beispiel dafür, dass Europa allzu sehr auf die Sicherheitsgarantien der USA vertraut. Sollte der Eindruck entstehen, Deutschland habe es mit der Zeitenwende nicht sonderlich eilig, werden die republikanischen Präsidentschaftskandidat_innen und diverse Kongresskandidat_innen in allen Teilen der USA dies instinktsicher ausschlachten und für ihre Zwecke nutzen. Die Amerikaner_innen, die solchen Parolen Gehör schenken, werden auf Deutschland und Europa wütend sein ohne gänzlich zu wissen, warum. Wenn das passiert, ist es zu spät. Deutschland muss verhindern, dass es in einem polarisierten Amerika zum politischen Spielball wird.

In manchen Kreisen ist das „Germany Bashing“ bereits verbreitet. Senator J. D. Vance twitterte am 3. März: „Deutschlands Verhalten in diesem Krieg ist eine Schande, und es ist eine Beleidigung für unsere Wähler, dass viel zu viele Republikaner sich dem fügen. Ihre ganzen Versprechungen erweisen sich als ein einziger Mist. Warum subventionieren die amerikanischen Steuerzahler die idiotische deutsche Energiepolitik und die schwache Verteidigungspolitik? Völlig unverständlich.“ Auf einen weiteren Tweet, in dem J. D. Vance die deutschen Verteidigungsausgaben kritisierte, reagierte der Senator von Utah, Mike Lee, mit einem Tweet von seinem persönlichen Account: „Die USA werden von unseren NATO-Verbündeten ausgenutzt. Wenn wir ständig unsere Verteidigungspflichten erfüllen oder sogar übererfüllen und sie das nicht tun, obwohl sie genau wissen, dass sie sich sowieso auf uns verlassen können, wenn es um ihre Verteidigung geht, entsteht allmählich der Eindruck, dass wir ihre Ausgaben subventionieren, die ihnen wichtiger sind als die Verteidigungsausgaben.“

Deutschland-Bashing droht zu einem populären Wahlkampfthema zu werden. Und ein Deutschland (und nicht Brüssel), das anscheinend nicht in der Lage ist seinen Verpflichtungen nachzukommen, wird viel Groll auf sich ziehen.

 

Deutschland muss erkennen, dass Präsident Joe Biden der transatlantischste Präsident ist, den Europa seit Langem erlebt hat. Die Schonzeit könnte jedoch schon bald vorbei sein. Sollte Deutschland es nicht schaffen, den Verteidigungshaushalt dauerhaft auf 2 Prozent des BIP aufzustocken, die Bundeswehr zu der kampfstarken Armee auszubauen, die Europa braucht, und die ihm zugedachte Führungsrolle zu übernehmen, wird es selbst für Biden politisch immer schwieriger werden, sich hinter Deutschland zu stellen. Es gibt viel zu tun, und zwar schnell. Es gilt keine Zeit zu verlieren.

 

Aus dem Englischen von Christine Hardung

 

 

Rachel Rizzo ist Nonresident Senior Fellow im Europe Center des Atlantic Council. Sie forscht zu europäischer Sicherheit, der NATO und den transatlantischen Beziehungen. 

 

 

Die in diesem Beitrag geäußerten Inhalte und Meinungen sind die der/des jeweiligen Autor_in und geben nicht die Ansichten der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. wieder.

Der neue deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, rechts, und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin geben sich vor einem Treffen im Verteidigungsministerium in Berlin, Deutschland, am Donnerstag, 19. Januar 2023, die Hand. (AP Photo/Michael Sohn)

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