15.06.2012

"ObamaCare", die Entscheidung des Supreme Court und die Präsidentschaftswahlen

Im Wahlkampf 2008 hat Barack Obama für eine Reform des Gesundheitswesens geworben, das Kosten eindämmen und Versicherungsschutz universell zugänglich machen sollte. Obama gelang, woran all seine demokratischen Amtsvorgänger seit Jahrzehnten gescheitert waren: im März 2010 konnte er das große Reformwerk, den „Patient Protection and Affordable Care Act“, unterzeichnen. Bisher waren über 40 Millionen Amerikaner nicht versichert. Durch das neue Gesetz sollen bis 2014 fast alle Amerikaner eine Gesundheitsversicherung abschließen können.

Die erhitzte politische Debatte hat damit nicht aufgehört, im Gegenteil. Seine republikanischen Antagonisten versuchen, dem Präsidenten sein komplexes Reformwerk wie einen Mühlstein um den Hals zu hängen. In der Absicht, es verächtlich zu machen, wird es als „ObamaCare“ bezeichnet und (auch bei einigen Demokraten) als Beweis für die falschen Prioritäten des Präsidenten gesehen, der sich stattdessen um „jobs jobs jobs“ hätte kümmern sollen.

Derzeit wartet das ganze Land angespannt auf die noch vor Ende Juni erwartete Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. 26 Bundestaaten haben gegen das Gesetz vor dem Supreme Court geklagt. Sie argumentieren, der Kongress (zum Zeitpunkt der Verabschiedung mit Mehrheit der Demokraten) habe seine Kompetenzen überschritten, indem er allen Bürgern auferlegt, eine Gesundheitsversicherung abzuschließen (und bei Nichteinhalten eine Strafe zu zahlen). Das Gericht muss die Frage klären, ob dieses sog. „individual mandate“, sprich die im Gesetz verankerte Pflichtversicherung, verfassungskonform ist und falls nicht, ob damit das ganze Gesetz gekippt werden sollte, um den Weg für ein neues Gesetz frei zu machen. Die Pflichtversicherung ist für die Finanzierung eines solidarischen Systems essentiell, da damit weitgehend ausgeschlossen werden soll,  dass man sich erst dann versichert, wenn man selbst krank wird. Das Argument, Obama habe auf Bundesebene nur umgesetzt, was sein Herausforderer Romney in Massachusetts zuvor eingeführt habe, zählt bei konservativen Kritiker nicht, die solche Reformen den einzelnen Bundesstaaten überlassen wollen.

Das Gesetz soll bis 2015 komplett implementiert sein. Folgendes wurde seit Inkrafttreten des Gesetzes bereits umgesetzt:

  • Neue Institutionen und Forschungseinrichtungen wurden aufgebaut (z.B. das Patient-Centered Outcomes Research Institute, PCORI)
  • Beziehungen zwischen Regierung und Bundesstaaten sind enger geschnürt.
  • Junge Erwachsene können bis zum 26. Lebensjahr familienversichert sein (ein in Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit besonders wichtiges Element. Laut dem Commonwealth Fund nutzen dies 6.6 Millionen junge Menschen seit Inkrafttreten des Gesetzes).
  • Die Diskriminierung von Personen mit existierenden Krankheiten ist verboten, ihnen darf der Versicherungsschutz nicht mehr vorenthalten werden.
  • Viele Nichtversicherte haben eine Versicherung abgeschlossen (laut Gallup hat sich die Zahl der Nichtversicherten 18-25jährigen bisher von 28% auf 23% verringert).
  • Die meisten Staaten haben eine Kostenüberwachung eingeführt. (Die Gesundheitskosten sind in den USA auf lange Sicht der größte Haushaltsposten auf der Ausgabenseite. Doch schon die ersten Jahre des neuen Gesundheitsgesetzes haben der Aufwärtsspirale einen Dämpfer verpasst. Die signifikanten Zahlungseinschnitte und Reformen bei den Krankenkassen haben bereits in kurzer Zeit dazu geführt, dass viele Krankenhäuser und Ärzte motiviert sind, Pflege kosteneffektiver anzubieten, ohne die Qualität leiden zu lassen. Eine Qualitätsgarantie soll dadurch erreicht werden, das Pflege nicht mehr quantitativ eingestuft wird, sonder qualitativ. Andere Kostenersparnisse werden z.B. durch effektiverer elektronische Datenspeicherung in Krankenhäusern und besserer Zusammenarbeit und Austausch unter Ärzten/Krankenhäusern erzielt.)

Bei der anstehenden Entscheidung des Supreme Court gibt es drei mögliche Ausgänge: das Gericht könnte das Gesetz als verfassungskonform bestätigen, es kippen oder nur die individuelle Pflichtversicherung außer Kraft setzen. Alle drei Optionen haben das Potential, den Wahlkampf zusätzlich anzuheizen.

Die öffentlichen Anhörungen vorm Supreme Court im März haben die politische Spaltung des Gerichts bereits deutlich gemacht. Fünf konservative Richter waren geschlossen gegen die Pflichtversicherung, während sich die übrigen vier als progressiv geltenden RichterInnen hinter das Gesetz stellten. Seither arbeiten die Richter an ihren Stellungnahmen. Mit (An)Spannung wird nun das Ergebnis erwartet, das so oder so wie eine Bombe einschlagen wird.

  • Das unterzeichnete Gesetz eines amtierenden Präsidenten könnte fallen. Das ist zuletzt unter Präsident Roosevelt vor 75 Jahren passiert, als der Supreme Court Teile seines „New Deal“ Gesetzes außer Kraft setzte.
  • Das Gesetz könnte gestärkt aus dem Verfahren hervorgehen. Dann hätte sich das Gericht gegen die derzeitige öffentliche Meinung gestellt. Laut letzten Umfragen (New York Times/CBS News vom 7. Juni 2012) wollen 41% der Amerikaner, dass der Supreme Court das Gesetz kippt. 27% votieren gegen die Pflichtversicherung und nur 24% wollen das Gesetz so beibehalten, wie es ist. D.h. eine Mehrheit der Amerikaner (68%) denkt, dass die Pflichtversicherung verfassungswidrig wäre.

 

Wie sich die höchste Instanz der Judikative auch entscheidet, an Reputation hat es bereits deutlich eingebüßt. Das öffentliche Vertrauen in den Supreme Court ist so niedrig wie nie zuvor. Es ging seit 1980 von 66% auf heute 44% zurück (New York Times/CBS News vom 7. Juni 2012). Die Mehrheit der Amerikaner glaubt, dass das Gericht seine Entscheidung zu „ObamaCare“ politisch motiviert treffen wird und nicht auf Grundlage des Verfassung.

Und die Auswirkungen auf den Wahlkampf? 

Sollte der Supreme Court das  Gesetz als verfassungskonform bestätigen, bläst das frischen Wind in die Segel der Republikaner und auch der Demokraten. Die Republikaner könnten weiterhin gegen das Gesetz Wahlkampf machen. Andererseits würden auch die Demokraten davon profitieren, denn sie könnten weiterhin darauf verweisen, dass das vom höchsten Verfassungsgericht abgesegnete Gesetz – samt Pflichtversicherung – auf Mitt Romneys Gesundheitsgesetz basiert, das er als Gouverneur in Massachusetts erfolgreich verwirklichte. Seine Opposition wirkt in den Augen der Demokraten völlig unglaubwürdig.

Sollte der Supreme Court das Gesetz ganz oder in Teilen kippen, könnte der anfängliche Triumph die Republikaner durchaus teuer zu stehen kommen, denn sie artikulieren derzeit nur ihre komplette Ablehnung, aber keine Alternative. Teile der Reform erfreuen sich durchaus großer Zustimmung, z.B. die Einbeziehung junger Erwachsener in die Familienversicherung, oder auch das Verbot der Diskriminierung gegen Personen mit existierenden Krankheiten.

Für Präsident Obama wäre eine ablehnende Entscheidung zunächst eine große Niederlage und ein böser Rückschlag, der Wähler ggf. demotiviert. Es könnte aber auch helfen, die demokratischen Wähler neu zu mobilisieren. Die Demokratische Partei könnte mit der Aussage in den Wahlkampf ziehen, dass sie ein kostentreibendes Grundproblem angepackt haben,  und sie können auf die von den Wählern positiv beurteilten Aspekte des Gesetzes verweisen. Die Republikaner tragen dann die Verantwortung für die wieder steigenden Gesundheitskosten. Obamas Wahlkampfteam würde zudem die konservativen Richter des höchsten Gerichts des Landes des politischen Aktivismus beschuldigen.  

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