Wisconsin wird zum Schauplatz der wohl wichtigsten US-Wahl des Jahres 2023 - der Wahl zum Obersten Gerichtshof von Wisconsin
Wisconsin ist einer der wichtigsten Schauplätze der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten. Mit einer langen Geschichte als Swing State, die bis in die 1800er Jahre zurückreicht, haben Präsidentschaftskandidat*innen seit Beginn des 21. Jahrhunderts dreimal mit einer knappen Mehrheit von einem Prozentpunkt gewonnen. Jetzt ist der Staat Schauplatz der wohl wichtigsten US-Wahl des Jahres 2023 - der Wahl zum Obersten Gerichtshof von Wisconsin am 4. April. Die Wahl, die das Gericht mit vier zu drei Richter*innen entweder "blau" oder "rot" färben könnte, wird den Richter*innen die Macht geben, über schwerwiegende Themen wie Abtreibungsrechte und Wahlkreiszuschneidung (“gerrymandering”) zu entscheiden. Obwohl Biden den Bundesstaat 2020 mit einer knappen Mehrheit gewonnen hat, geben die geographischen Gegebenheiten und die demografische Zusammensetzung des Staates einen Eindruck davon, was bei den kommenden Wahlen zu erwarten ist und welche Zukunft Wisconsin als Swing State hat. Wir haben dazu den Senator des Bundesstaates Wisconsin, Chris Larson, befragt, der uns seine Meinung zur bevorstehenden Wahl des Obersten Gerichtshofs mitteilte.
Um die politische Spaltung Wisconsins zu verstehen, lohnt es sich ein Blick auf das Stadt-Land-Gefälleim Staat zu schauen. Verschiedene Expert*innen haben diese Kluft als einen wichtigen Faktor für die Erklärung der rot-blauen Spaltung des Staates identifiziert. Das United States Office of Management and Budget (OMB) stuft 32 der 72 Bezirke von Wisconsin offiziell als ländliche Gebiete ein. Ebenso bezeichnet das US Census Bureau 49 Prozent des Bundesstaates als ländlich und verortet 13 Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates im ländlichen Wisconsin. Ländliche Wähler*innen in den Vereinigten Staaten neigen zunehmend dazu, die Republikanische Partei zu wählen, während die städtischen Wähler*innen eine starke demokratische Basis haben. Die politischen Auswirkungen dieser Spaltung zwischen Stadt und Land haben seit Anfang der 2000er Jahre deutlich zugenommen – im Land insgesamt, aber auch im Bundesstaat Wisconsin. In den vorstädtischen Bezirken sind die Anhänger*innen beider Parteien gleichmäßig verteilt und daher für die Präsidentschaftskandidat*innen, die in Wisconsin Wahlkampf machen, von besonderem Interesse. Die geografische Lage des Bundesstaates spielt zwar eine Rolle bei der Erklärung der politischen Zusammensetzung von Wisconsin, aber auch die demografischen Daten und die Zusammensetzung der Wählerschaft sind von Bedeutung. Laut einer Umfrage von FiveThirtyEight wird die politische Neigung Wisconsins zu den Republikanern maßgeblich von den 59 Prozent weißer, männlicher Wähler im Alter von 25 Jahren und älter und ohne College-Abschluss beeinflusst – der Wählergruppe, die bei den Parlamentswahlen 2020 am ehesten für Trump gestimmt hat.
Wisconsin ist, wie Staatssenator Chris Larson erklärt, ein "sehr violeter Staat". Während die Präsidentschaftskandidaten ihre Siegen immer knapp verbuchten, hatten die Einwohner*innen von Wisconsin seit 1988 für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten gestimmt. Das änderte sich erst 2016 mit Trump. Aber nicht nur die Parlamentswahlen waren knappe Angelegenheiten. "[....] Das Rennen um den Obersten Gerichtshof 2019 wurde landesweit mit weniger als 6.000 Stimmen entschieden. Außerdem hatten wir vor einigen Monaten das knappste Rennen um den US-Senat in der Geschichte unseres Bundesstaates, das einen Rekord bei den Ausgaben aufstellte. Am Ende wurde es auch mit weniger als 1 Prozent entschieden", erklärt Senator Larson.
Trump hat die Präsidentschaftswahlen 2016 in Wisconsin mit rund 24.000 Stimmen gegenüber seiner Kontrahentin Hillary Clinton gewonnen. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der Wahlkommission von Wisconsin bei nur 66 Prozent – ein historischer Tiefstand in dem Bundesstaat in den vergangenen 20 Jahren. Senator Larson behauptet, dass "die demokratischen Wähler*innen ermutigt wurden, per Briefwahl zu wählen und alles was in ihrer Macht stehe zu tun, um sicherzustellen, dass ihre Stimme zählt. Donald Trump hingegen hat die Bemühungen um eine vorzeitige Stimmabgabe mit Argwohn betrachtet und seine Anhänger*innen ermutigt, stattdessen am Wahltag zur Wahl zu gehen." Orte, die sich normalerweise als sicherer Sieg für republikanische Kandidaten erwiesen, wie zum Beispiel große Ballungsgebiete und die Vororte von Milwaukee, brachten nicht die erwarteten Ergebnisse, die sie für republikanische Kandidaten in früheren Wahlen erzielt hatten.
Bei den Wahlen 2020 hingegen wurden die Wähler*innen deutlich mobilisiert. Joe Biden färbte den Bundesstaat mit einem knappen Mehrheitssieg von 0,7 Prozent, das heißt etwa 21,000 Stimmen, blau. Vor allem die Vorstadtbezirke von Milwaukee waren ein treibender Faktor für diesen Wandel. Wie die CAP Times berichtet, gelang es Biden, vor allem in Dane und den "WOW"-Bezirken am Stadtrand von Milwaukee – Waukesha, Ozaukee und Washington – Wähler*innen zu mobilisieren. Die Demokraten gaben hier während ihres Wahlkampfs eine Rekordsumme für Print- und Digitalwerbung aus und holten Prominente für virtuelle Veranstaltungen und Konzerte ins Boot. Die Wahl zum Obersten Gerichtshof am 4. April ist eine Fortsetzung dieser Bemühungen, denn dieser Wahlkampf stellte einen neuen Ausgabenrekord auf.
Bei der Wahl zum Obersten Gerichtshof des Bundesstaates Wisconsin tritt die progressive Richterin Janet Protasiewicz gegen den konservativen Dan Kelly an. Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, dass es Richter*innen gibt, deren politische Neigungen öffentlich bekannt sind, geschweige denn, dass sie an einer Wahl für ein Richter*innenamt teilnehmen. Dennoch ist das Phänomen, dass Richter*innen kandidieren, um einen Sitz an einem Gericht zu erhalten, in den USA nicht ungewöhnlich: In 21 Bundesstaaten werden die Richter*innen des Obersten Gerichtshofs durch überparteiliche Wahlen bestimmt. Die Wahl in Wisconsin sticht jedoch hervor: Im Vorfeld der diesen wurden mehr als 37 Millionen Dollar für das Rennen ausgegeben - was es zum mit Abstand teuersten Wahlkampf für einen Obersten Gerichtshof Posten in der Geschichte des Landes macht. Hinzu kommt, dass Politiker*innen beider Parteien auf der virtuellen Wahlkampffläche intensiv für ihre*n bevorzugte*n Kandidat*in werben, und zwar offenbar mit viel größerer Intensität als bei früheren Richter*innenwahlen. Außerdem haben die großen Nachrichtenmedien das Rennen, das manche als "die folgenreichste Wahl des Jahres" bezeichnet haben, aufmerksam verfolgt und darüber berichtet.
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich die Zusammensetzung der derzeitigen politischen Landschaft in Wisconsin ansehen. Mit Ausnahme des Gouverneursamtes haben die Republikaner*innen seit langem die meisten Hebel der Macht in diesem Bundesstaat in der Hand. Sie verfügen derzeit über eine starke Mehrheit in der Kongressdelegation und stehen kurz davor, in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit zu erlangen. Und die Konservativen haben derzeit die Kontrolle über den Obersten Gerichtshof des Bundesstaates inne.
Doch ein Sieg von Protasiewicz bei den Wahlen am 4. April könnte dies alles drastisch ändern. Der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Wisconsin setzt sich aus sieben Richtern*innen zusammen - vier von ihnen sind derzeit dafür bekannt, dass sie eher konservative Ansichten vertreten, während drei eher liberal eingestellt sind. Der umstrittene Posten wird derzeit von einem konservativ eingestellten Richter*innen besetzt - das bedeutet, dass im Falle eines Sieges von Protasiewicz die Liberalen tatsächlich die Mehrheit am Obersten Gerichtshof stellen würden.
Eine Mehrheit im Obersten Gerichtshof des Bundesstaates Wisconsin bedeutet eine enorme Machtfülle: Sie bringt nicht nur die Möglichkeit mit sich, die Wahlbezirke des Bundesstaates und des Kongresses so umzugestalten, dass die Möglichkeiten der gegnerischen Partei drastisch eingeschränkt werden, sondern es stehen auch Fragen wie der Zugang zur Abtreibung, Gewerkschaftsrechte und Wahlgesetze auf dem Spiel. Vor allem die letztgenannte Frage hat diese Wahl ins nationale Rampenlicht gerückt. Die Bedeutung von Wisconsin als „Swing State“ für die allgemeinen Wahlen ist ebenfalls unbestreitbar.
Wie sehr sich Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs von Wisconsin auf das ganze Land auswirken können, wurde 2020 drastisch sichtbar, als das Gericht kurz davor stand, den Sieg von Präsident Joe Biden zu kippen. Die Konservativen mögen das Gericht 15 Jahre lang kontrolliert haben, aber der Gewinner dieser Wahl wird die Mehrheitsverhältnisse für mindestens die nächsten zwei Jahre bestimmen, auch vor und unmittelbar nach dem Präsidentschaftswahlkampf 2024. Und der Sieg einer der Kandidat*innen könnte verheerende Folgen haben, wie Senator Larson bemerkt: "[....] Wenn Sie sonst nichts über dieses Rennen wissen, dann wissen Sie dies: Dan Kelly wurde vom Republikaner Scott Walker für den Obersten Gerichtshof ernannt. Als er sich im Frühjahr 2020 den Wähler*innen stellte, um den Sitz zu behalten, verlor er. Im Herbst dieses Jahres beriet er Trumps Anwaltsteam. Wäre er am Gericht gewesen, hätte Kelly, anstatt den Fall korrekt abzuweisen, mit dem versucht wurde, unsere Wahlauszählung zu verzögern, sich auf die Seite von Trump gestellt und die 10 Wähler*innenstimmen von Wisconsin in Gefahr gebracht und die Bemühungen der Wahlverweigerer*innen, Trump nach seiner Niederlage im Electoral College wieder zu installieren, weiter angeheizt. Das Gericht hat seitdem die manipulierten Wahlkreiskarten von Wisconsin bestätigt, die den Republikaner*innen im Senat und in der Versammlung des Bundesstaates eine unverdiente Mehrheit verschaffen. Und das, obwohl Wisconsin ein 50/50-Staat ist. Die Frage, ob Abtreibung in Wisconsin immer noch illegal ist, wird wahrscheinlich vor diesem Gericht zur Sprache kommen."
In einem Bundesstaat, der erst vor kurzem wieder "blau" geworden ist, sind anstehende Wahlen wie die Wahl zum Obersten Gerichtshof von Wisconsin am 4. April 2023 von besonderer Bedeutung. Die Wahlentscheidung der Bürger*innen von Wisconsin wird Auswirkungen auf verschiedene Themen im Bundesstaat haben und ein Indikator dafür sein, was bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zu erwarten ist.
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