Die Jahre seit der COVID-Pandemie waren für das US-amerikanische Bildungswesen transformativ und haben öffentliche Bildung wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer Debatten gerückt.
Was als legitime Meinungsverschiedenheiten zu Fragen von Schulschließungen, Maskenmandaten und dem Schutz von Lehrkräften begann, führte in kurzer Zeit zu politisch motivierten Grundsatzdiskussionen darüber, wie öffentliche Schulen ihren Unterricht zur amerikanischen Geschichte, zu Rassismus, Sexualität und auch Geschlechtsidentität gestalten sollten. Aufsehen erregten dabei vor allem die sich häufenden Verbote von Büchern an öffentlichen Schulen und Bibliotheken, die den laufenden Kulturkampf in den USA verschärfen. Darunter versteht man allgemein den Kampf um die „kulturelle Vorherrschaft“ innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen.
Laut der internationalen Autorenorganisation PEN America haben Bücherverbote allein in der ersten Hälfte des Schuljahres 2022-23 um 28 Prozent zugenommen. Es ist die am weitesten verbreitete Form der Zensur in den Vereinigten Staaten, von der vor allem Kinderliteratur betroffen ist. Die Befürworter:innen des Verbots bestimmter Bücher befürchten, dass Kinder durch den Inhalt potenziell gefährdet würden. Sie argumentieren vordergründig mit dem Wohl des Kindes und dem Wunsch, ihre Kinder vor „unangebrachten” und „sexuellen” Inhalten oder „anstößiger Sprache” zu schützen. Doch vermuten Autor:innen und progressive Politiker:innen sowie Intellektuelle andere Gründe: Sie gehen eher davon aus, dass viele dieser Publikationen Ideen und Fragen aufwerfen, die Eltern, politische Gruppen oder religiöse Organisationen nicht aufgreifen wollen, weil sie politisch oder kulturell nicht mit den dargestellten Inhalten übereinstimmen. Die Bücherverbote reihen sich damit auch in Versuche ein, hart erkämpfte Fortschritte in den USA zurückzudrängen, sowohl was den Umgang mit dem Erbe der Sklaverei angeht, als auch mit der Ausdehnung von Rechten für Frauen sowie sexuellen Minderheiten.
Doch was thematisieren die verbotenen Bücher eigentlich? Die Titel bilden ein breites Themenspektrum ab. Sie befassen sich vor allem mit Gewalt und Missbrauch (44 Prozent), psychischer Gesundheit, Mobbing, Selbstmord, Drogenmissbrauch, sexuellem Wohlbefinden und Pubertät (38 Prozent), People of Color (30 Prozent) und LGBTQ+-Personen (26 Prozent). Aber auch Tod und Trauer (30 Prozent), sexuelle Erfahrungen (24 Prozent) sowie Schwangerschaften im Jugendalter, Abtreibung und sexueller Missbrauch (17 Prozent) werden in den Büchern angesprochen.
Die Auseinandersetzungen um solche Bücher sind dabei ganz und gar nicht neu – im Gegenteil, Zensurversuche gibt es schon seit Jahrzehnten. So wurden bereits in den 1980er Jahren Bücher, in denen sich Autor:innen mit Sexualität und Selbstbild auseinandersetzten, heftig kritisiert und zum Teil auch zensiert. Doch während Bücherverbote einst von besorgten Eltern angestoßen wurden, sind es nun zunehmend organisierte Gruppen und Politiker:innen, die unter anderem durch neue Gesetze Zensuren systematisch vorantreiben. Insbesondere Unterrichtsmaterialien zu sexueller Orientierung und der Critical Race Theory, die sich im Kern mit dem strukturellen Charakter des Rassismus in den USA beschäftigt, werden von diesen Gruppierungen als problematisch angesehen. Beispielsweise setzten sich einige Eltern aus Tennessee dafür ein, dass Bücher über Martin Luther King Jr., der als ein Vorbild der Bürgerrechtsbewegung gilt, aus dem Lehrplan der zweiten Klasse gestrichen werden, da Ideen der Bürgerrechtsbewegung „gesellschaftlich spaltend“ und „anti-amerikanisch“ seien.
Wie bedeutsam Bücherverbote für den Kulturkampf sind, wird aus dem Index von PEN America klar: In der ersten Hälfte des Schuljahres 2022-23 registrierte die Organisation 1.477 Verbotsfälle, was 874 Titel betraf. Das Verbot eines einzigen Buchtitels kann dabei von einem bis zu hundert Exemplaren reichen, die aus Klassenzimmern, öffentlichen Bibliotheken oder dem gesamten Schulbezirk entfernt werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die weltweit erfolgreichen Gedichtbände der indisch-kanadischen Autorin Rupi Kaur, wie unter anderem „Milk and Honey“, sind aktuell (Juli-Dezember 2022) in 14 Schuldistrikten der USA verboten. Die Autorin verarbeitet in ihren Büchern vor allem sexuelle Übergriffe und Gewalt, die eine junge Frau erlebt hat. Sie selbst äußerte sich zu dem Verbot folgendermaßen:
„It’s so unfortunate and kind of disturbing just to see the way those poems about our experiences — about the abuse that we endure — are now the reason that this book is being banned. “ [Es ist so bedauerlich und auch beunruhigend zu sehen, wie diese Gedichte über unsere Erfahrungen - über den Missbrauch, den wir ertragen mussten - nun der Grund dafür sind, dass dieses Buch verboten wurde.]
Im bisherigen Schuljahr konnte PEN America in 21 US-Bundesstaaten zumindest temporäre Bücherverbote registrieren. Spitzenreiter ist dabei der Bundesstaat Texas mit 438 Verboten, gefolgt von Florida, Missouri, Utah und South Carolina. In den meisten Fällen sind die Zensuren das Ergebnis organisierter Kampagnen von Interessengruppen oder von Gesetzesänderungen. So wurde im Staat Missouri im August 2022 ein Gesetz verabschiedet, wonach es ein Vergehen der Klasse A darstellt, wenn Bibliothekar:innen oder Lehrkräfte „eindeutig sexuelles Material“ — wie die visuelle Darstellung von bestimmten körperlichen Merkmalen — an Schüler:innen weitergeben. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung verboten öffentliche Schulbezirke daraufhin in ganz Missouri 313 Bücher. Ähnliche Entwicklungen sind auch in Florida und Utah zu beobachten, wo der „Parental Rights in Education Act“, beziehungsweise das Gesetz zu „Sensitive Materials in Schools”, zu Bücherverboten geführt hat.
Genau solche Vorschriften nutzen Interessengruppen, um Schulen und Bibliotheken unter Druck zu setzen und ihre meist christlich und konservative Weltansicht mit Bücherverboten zu forcieren. Viele der während der Pandemie gegründeten Interessensgruppen agieren bereits auf bundesstaatlicher oder gar nationaler Ebene und reichen von lokalen Gruppen im Internet bis hin zu etablierten Vereinigungen. Besonders effektiv ist die Gruppe „Moms for Liberty“, die laut ihrem Leitbild behauptet, für das Überleben Amerikas und elterliche Rechte einzutreten. Die Organisation, die 2020 in Florida entstanden ist und sich einst einstimmig gegen Maskenvorgaben aussprach, nimmt nun auch organisiert Lehrpläne ins Visier und greift Bücher an, die sie als ungeeignet für junge Leser:innen betrachtet. Mittlerweile ist „Moms for Liberty“, nach eigenen Angaben, mit insgesamt knapp 110.000 Mitgliedern in fast 200 Ortsgruppen (Stand: Juli 2022) landesweit vertreten und pflegt enge Verbindungen zur Republikanischen Partei. Auch in einigen Staaten, die historisch von den Demokraten geprägt sind, haben sie inzwischen Fuß gefasst.
Konservative Hardliner wie Floridas Governor Ron DeSantis nehmen öffentlichkeitswirksam an ihren Veranstaltungen teil. Besonderen Einfluss erlangen die „Moms for Liberty“ bisher aber vor allem dadurch, dass sie bei Wahlen zu Schulbehörden ihre präferierten Kandidat:innen aufstellen und im Wahlkampf unterstützen. Die von ihnen geförderten Kandidat:innen hätten laut der Organisation insgesamt 272 Schulratssitze gewonnen und stellen inzwischen die Mehrheit in mehr als einem Dutzend Bezirken in Staaten wie North und South Carolina, Indiana, New Jersey und Florida. Neben „Moms for Liberty“ gibt es gemäß PEN noch mindestens 50 andere Interessensgruppen, die für Bücherverbote werben.
Doch viele Amerikaner:innen sehen in diesen Entwicklungen eine reale Bedrohung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung und Bildung. Insbesondere die international bekannte Non-Profit-Organisation PEN America setzt sich für die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit und die Rechte von Autor:innen und Journalist:innen in den USA und weltweit ein. Sie betreibt wichtige Aufklärungsarbeit durch detaillierte Berichterstattung über die Anzahl, Themen und Hintergründe von Bücherverboten und gilt zudem als Anlaufstelle für betroffene Autor:innen. Zu den Gründungsmitgliedern aus dem Jahr 1922 gehörten Schriftsteller:innen wie Willa Cather, Eugene O'Neill, Robert Frost, Ellen Glasgow und Edwin Arlington Robinson.
Auf Anfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung Washington erklärte sich PEN America bereit, ein kurzes Interview mit uns zu führen.
Kann die derzeitige Zunahme von Bücherverboten als eine Auswirkung der Pandemie betrachtet werden?
Im Großen und Ganzen ist diese Bewegung mit den politischen Bewegungen verflochten, die während der COVID-19-Pandemie wuchsen, einschließlich des Widerstandes gegen die Maskenpflicht und den Online-Unterricht, sowie der Auseinandersetzungen über die Critical Race Theory. Letzteres führte in einigen Staaten zur Einführung von Verboten im Bildungswesen, welche die Diskussion „spaltender Konzepte“ im Klassenzimmer untersagen.
Welche Rolle spielen die Bücherverbote im Präsidentschaftswahlkampf 2024?
Buchverbote und das allgemeine Klima der Bildungszensur wirken sich bereits auf die Nachrichtenlandschaft mit Blick auf 2024 aus. Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris haben beide die Zunahme von Buchverboten im ganzen Land kritisiert. Präsident Biden äußerte sich diesbezüglich wie folgt: „I never thought I’d be a President who is fighting against elected officials trying to ban and banning books. And I’ve never met a parent who wants a politician dictating what their kid can learn, and what they can think, or who they can be. “ [Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Präsident sein würde, der gegen gewählte Amtsträger:innen kämpft, die versuchen, Bücher zu verbieten. Und ich habe noch nie Eltern getroffen, die wollen, dass Politiker:innen ihnen vorschreiben, was ihr Kind lernen darf, was es denken darf oder wer es sein darf]. Im Gegensatz dazu setzt sich der republikanische Präsidentschaftskandidat aus Florida, Gouverneur Ron DeSantis, selbst für eine zensierende Gesetzgebung ein.
Was macht PEN America Hoffnung im Widerstand gegen Bücherverbote?
Das Verbot von Büchern ist nicht nur völlig undemokratisch, es ist auch zutiefst unpopulär. Eine Umfrage nach der anderen zeigt die Abneigung der Amerikaner:innen gegen diese rigorose staatliche Zensur, die mit Bücherverboten und ähnlichen Maßnahmen einhergeht. Gleichzeitig vernetzen sich Studierende, Eltern, Bibliothekar:innen und Bildungsverbände, um sich gegen Bücherverbote zu wehren und die Freiheit des Lesens zu verteidigen.
Wie kann die Arbeit von PEN America von Deutschland aus unterstützt werden?
Wir sind dankbar für die Unterstützung von Schriftsteller:innen, Leser:innen, Bibliothekar:innen, Lehrer:innen und anderen Menschen auf der ganzen Welt. Wir laden Sie ein, unsere Berichte zu lesen, an unseren virtuellen Veranstaltungen teilzunehmen und unsere Newsletter zu abonnieren. Wer unsere Arbeit finanziell unterstützen möchte, kann dies über unsere Website tun.
Bücher in Bildungseinrichtungen sind ein weiteres Spielfeld im allgegenwärtigen Kulturkampf in den Vereinigten Staaten. Der Angriff auf Bücher dient dabei auch der systematischen Schwächung der öffentlichen Bildung , ihrer Befürworter:innen sowie der relativ stark gewerkschaftlich organisierten Lehrkräfte im öffentlichen Bildungssektor. Advokat:innen der Bücherverbote geht es daneben auch darum, bestimmten Gruppen in der US-Gesellschaft zu signalisieren: „Ihr seid nicht erwünscht, ihr gehört nicht dazu.“
Immerhin gibt es einen Hoffnungsschimmer: Viele der verbotenen Bücher können aufgrund der medialen Aufmerksamkeit gesteigerte Verkaufszahlen verzeichnen. Vor allem Autor:innen freut diese Entwicklung, aber auch viele Eltern kleiner Leseratten.
WASHINGTON, DC+1 202-478-4390fesdc[at]fesdc.org
OTTAWA, ON+1 202-478-4390canada[at]fesdc.org
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