Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten macht immer wieder mit umstrittenen Gerichtsurteilen auf sich aufmerksam, und das insbesondere seit der ersten Amtszeit des Ex-Präsidenten und aktuellen Präsidentschaftsbewerbers Donald Trumps.
Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten macht immer wieder mit umstrittenen Gerichtsurteilen auf sich aufmerksam, und das insbesondere seit der ersten Amtszeit des Ex-Präsidenten und aktuellen Präsidentschaftsbewerbers Donald Trumps. Das liegt vor allem daran, dass es Trump mit Hilfe der Republikanischen Senatsführung gelang, das Gleichgewicht des Gerichtshofs mit drei Richterbesetzungen in Richtung konservativer Mehrheit zu verschieben. Als das Gericht im Juni 2022 das Grundsatzurteil zu Abtreibung Roe v. Wade verwarf, machte dies in den USA wie in Deutschland Schlagzeilen. Ebenso, als das Gericht vor Kurzem urteilte, dass US-Präsidenten auch über ihre Amtszeit hinaus weitreichende Immunität für offizielle Amtshandlungen genießen.
Eine weitere Entscheidung, die der Oberste Gerichtshof nur wenige Tage vor dem historischen Immunitätsurteil erließ, könnte ebenfalls gravierende Folgen haben, sorgte aber für deutlich weniger Schlagzeilen: Die Aufhebung der sogenannten „Chevron Deference“ am 28. Juni 2024.
Das Urteil im Fall Loper Bright Enterprises v. Raimundo ist das letzte in einer Reihe von Entscheidungen, die zeigen, dass die von Trump geschaffene „conservative super majority“ am Obersten Gerichtshof nicht davor zurückschreckt, jahrzehntealte Präzedenzfälle zu verwerfen.
Seit 1984 hatte die Grundsatzentscheidung im Fall Chevron v. Natural Resources Defense Council staatlichen Behörden die Kompetenz zugeteilt, breit formulierte Gesetze entsprechend ihrer Expertise auszulegen und Regularien zu deren Umsetzung fest- und durchzusetzen. Jahrzehntelang haben sich Gerichte aller Ebenen auf Chevron gestützt und die Doktrin wurde insgesamt mehr als 18.000 Mal zitiert. Chevron wurde damit zu einem der meistzitierten Präzedenzfälle im US-amerikanischen Recht und einem der wichtigsten Urteile zum Bundesverwaltungsrecht.
Dieses Urteil wurde nun gekippt, wodurch die Richter:innen des Obersten Gerichtshofes die Interpretationshoheit von vage formulierten Gesetzen von den Behörden an die Gerichte übergeben. Die Regulierungsbehörden sind von nun an nur befugt, das durchzusetzen, was ihnen der Kongress ausdrücklich aufträgt und alle Regularien, die darüber hinaus gehen, können rechtlich angefochten werden.
Was auf den ersten Blick nicht allzu dramatisch, vielleicht sogar nachvollziehbar klingen mag, wird laut Expert:innen dramatische Folgen, insbesondere für Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitnehmer:innenrechte, Verbraucher:innenschutz, und Gesundheitsversorgung haben. Richterin Elena Kagan warnte in ihrer abweichenden Meinung vor „large-scale disruption“.
Es gibt Gründe, warum der Kongress Gesetze bewusst vage formuliert. Aufgrund der wissenschaftlichen und technischen Komplexität von Problemen und ihren Lösungsansätzen -
wie beispielsweise Klimagesetzgebung oder die Regulierung von KI - kann es aus Perspektive des Kongresses sinnvoll sein, den Expert:innen der Regulierungsbehörden Flexibilität und Ermessensspielraum einzuräumen. In einer sich immer schneller wandelnden Welt kann eine breiter gefasste Gesetzgebung zudem dazu beitragen, dass Gesetze länger gültig bleiben. Und nicht zuletzt sind vage Formulierungen oft der Preis dafür, dass es Gesetzesvorhaben überhaupt durch den Kongress schaffen: Je mehr die Gesetzgeber um Details ringen müssen, desto größer das Risiko, dass sie sich nicht einig werden – gerade in einem so gespaltenen Kongress wie dem aktuellen.
Politikwissenschaftler:innen argumentieren daher, dass durch das Verwerfen der „Chevron Deference“ die Macht des Kongresses geschwächt wird. Gestärkt wird hingegen der Einfluss der Gerichte. Richterin Kagan sieht in den Entscheidungen der konservativen Mehrheit einen Trend: „The majority disdains restraint, and grasps for power.“
Die Aufhebung des Chevron-Präzedenzfalls beschneidet vor allem die Fähigkeit progressiver Kräfte im Kongress sowie in der Regierung, Menschen zu schützen und große Unternehmen an Kosten für gute Arbeit oder den sozial-ökologischen Wandel zu beteiligen. Viele der Entscheidungen, die Regierungsbehörden über die letzten 40 Jahre sowie die aktuelle Biden-Regierung getroffen haben, könnten in den kommenden Monaten und Jahren fallen. Dazu gehören etwa neue nationale Schadstoffnormen für Fahrzeuge, die mehr als sieben Milliarden Tonnen Kohlenstoffemissionen vermeiden und die öffentliche Gesundheit aufgrund verbesserter Luftqualität fördern würden. Für Beschäftigte könnten neue Überstundenregelungen einkassiert werden: Ab 1. Juli 2024 wurden die Gehaltsgrenzen für Millionen Angestellter mit unteren und mittleren Einkommen angehoben, so dass ihnen Überstunden gezahlt werden müssen.
Es wird aller Wahrscheinlichkeit zu einer dramatischen Deregulierung sowie einer Überlastung der Gerichte kommen. Aktuell einheitliche Regularien könnten bald aufgrund von unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen von Ort zu Ort unterschiedlich ausfallen.
Konservative Kräfte arbeiteten seit Jahren gezielt daran, die „Chevron Deference“ zu kippen und diese Art der Deregulierung – oder in ihrem Vokabular den Abbau des sogenannten „administrative state“ – herbeizuführen. Die Entscheidung im Urteil Loper Bright Enterprises v. Raimundo ist laut progressiven Stimmen der Höhepunkt einer jahrzehntelangen, von Milliardären finanzierten Kampagne, die unter anderem darauf abzielt, Unternehmen auf Kosten der Bevölkerung riesige Gewinne zu bescheren. Der Rechtsberater des Weißen Hauses unter Trump erklärte damals öffentlich, es gäbe einen kohärenten Plan, Richter:innen zu ernennen, die der Trump-Regierung helfen würden, staatliche Regulierungen zurückzudrängen. Trump ernannte in seiner Amtszeit als Präsident mit der Hilfe des damaligen Mehrheitsführers des Senats, Mitch McConnell, nicht nur drei Richter:innen an den Obersten Gerichtshof, sondern auch mehr als 200 Bundesrichter:innen. Damit gestaltete er die Bundesgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten auf dramatische Weise um – eine Tatsache, die mit beinahe jedem Urteil des Obersten Gerichtshofes deutlicher wird. Die Gerichte, allen voran der Oberste Gerichtshof, demontieren aber nicht nur die Arbeit der öffentlichen Hand zum Nachteil von Beschäftigten und Umwelt. Sie würden aller Voraussicht nach auch einem potenziell wiedergewählten Präsidenten Trump bei der Umsetzung seiner Agenda keinerlei Steine in den Weg legen.
Sollte jedoch Joe Biden oder ein anderer Demokratischer Bewerber die Wahl im November gewinnen, ist andererseits zu befürchten, dass eine progressive Agenda, die etwa Klimaschutz und Arbeitnehmer:innenrechte fördert, mittels Gerichtsverfahren von Republikanern und Unternehmen torpediert wird. Für das Wohl der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung zu regieren, ist durch dieses Urteil des Obersten Gerichtshofes auf Jahrzehnte absehbar schwieriger geworden.
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