09.09.2020

Der Tag der Arbeit in den USA 2020: Ein schwieriger (und vertrauter) Moment

Seit 1932 war kein Tag der Arbeit für die Arbeiter_innen der USA von so großer Ungewissheit überschattet wie der diesjährige.

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Seit 1932 war kein Tag der Arbeit für die Arbeiter_innen der USA von so großer Ungewissheit überschattet wie der diesjährige. Gleich aus welchen Blickwinkeln man sie betrachtet, die Zukunft erscheint bedrohlich. Schon vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie war die amerikanische Innenpolitik in diesem Wahljahr polarisierter als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem 19. Jahrhundert. In den letzten sechs Monaten hat das Coronavirus die Situation aufs Äußerste verschärft. Das Virus hat 190.000 Amerikaner_innen das Leben gekostet, weil die unkoordinierten und sich widersprechenden Bemühungen der Regierung, die Ausbreitung zu verhindern, völlig gescheitert sind und so das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Regierung weiter untergraben haben. Dieses Scheitern hat die Wirtschaft in die extremste Talfahrt seit der Großen Depression geschickt und mit beispielloser Geschwindigkeit Dutzende Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit gestürzt. Während unsere Bereitschaft sinkt, für die von diesen Ereignissen Geschädigten Sorge zu tragen, bekommen die Arbeitslosen die völlige Unzulänglichkeit des US-Wohlfahrtsstaates zu spüren. Es drohen nun Millionen von Zwangsräumungen. Und es sind die verwundbaren und unterdrückten Arbeitnehmer_innen, die Immigrant_innen und People of Color, für die die Not sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesundheitlicher Hinsicht am größten ist.


Das Ausmaß der gegenwärtigen Krise lässt vermuten, dass die 2020er Jahre auf die eine oder andere Weise zu einem Wendepunkt werden

Das Ausmaß der gegenwärtigen Krise lässt vermuten, dass die 2020er Jahre auf die eine oder andere Weise zu einem Wendepunkt werden. Während sich dieses Jahr seinen letzten Monaten zuneigt, stehen wir ratlos, so scheint es, vor zwei möglichen Zukunftsszenarien. Eines davon verspricht große Hoffnung. Der erste schwache Lichtschein dieser Zukunft lässt sich in den sich über alle Hautfarben erstreckenden und antirassistischen „Black Lives Matter“-Protesten erkennen, in der Energie, die junge Aktivist_innen in den Kampf für einen „Green New Deal“ investieren, in der Entschlossenheit der Arbeitnehmer_innen, sich nicht opfern zu lassen für die vergeblichen Bemühungen, die Wirtschaft anzukurbeln, ohne vorher COVID-19 einzudämmen – eine Entschlossenheit, die sich in einer Vielzahl von Arbeitsniederlegungen und angedrohten Streiks manifestiert. Doch eine andere, dunklere Zukunft scheint ebenfalls möglich, die ihre langen Schatten vorauswirft: eine immer offenere Zurschaustellung von Aktivismus für eine weiße Vorherrschaft, einen nachlassenden Glauben an die Demokratie, das schwindende Vertrauen in demokratische Verfahren sowie den anwachsenden Reichtum und die zunehmende Macht der finanzstärksten und mächtigsten Unternehmen wie die von Amazon. Dies alles sind Entwicklungen, die ohne die Pandemie in dieser Form nicht möglich gewesen wären. 

 

Der erste Feiertag, der mittels sozialer Kämpfe errungen wurde

In diesem von Ungewissheit geprägten Moment lohnt es, sich die Umstände zu vergegenwärtigen, aus denen heraus der Labor Day in den Vereinigten Staaten überhaupt entstand. Wir sollten nicht vergessen, dass es der erste Feiertag gewesen ist, der mittels sozialer Kämpfe errungen wurde. Die Idee dazu kam 1882 bei Gewerkschaftsaktivist_innen in New York City auf, die sich für einen achtstündigen Arbeitstag einsetzten. Im September des Jahres hielten die New Yorker Gewerkschaften die erste Parade zum Tag der Arbeit ab. Sie wiederholten diese Parade im darauffolgenden Jahr. Und spätestens 1884 hatte sich der erste Montag im September als Termin für eine jährliche Gedenkfeier herauskristallisiert und Gewerkschaftsmitglieder in anderen Städten wurden ausdrücklich aufgefordert, sich an den Feierlichkeiten zu beteiligen. Die Tradition hatte bereits Wurzeln geschlagen, als die am 1. Mai 1886 begonnenen landesweiten Streiks für den Achtstundentag in die sogenannte Haymarket Affäre umschlugen, einem Kampf zwischen Polizei und Demonstranten in Chicago, bei dem sieben Polizisten und mindestens vier Arbeiter zu Tode kamen und in der Folge viele radikale Aktivist_innen verhaftet, verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Streiks von 1886 und die anschließenden Repressionen wurden zu einem von der ganzen Welt rege verfolgten cause célèbre und zur Inspiration für die Zweite Internationale, die 1889 in Paris zusammenkam, und im Gedenken daran den 1. Mai zum internationalen Feiertag der Arbeiter erklärte. Doch in den Vereinigten Staaten war da der Impuls für einen Feiertag im September bereits nicht mehr umzulenken: In fünf Bundesstaaten wurden Gesetze verabschiedet, die den ersten Montag im September als Tag der Arbeit anerkannten. Zu einem Nationalfeiertag wurde er erst erklärt, als Präsident Grover Cleveland im Sommer 1894 ein entsprechendes Gesetz unterzeichnete, doch selbst dann war der Feiertag lediglich den staatlich angestellten Arbeiter_innen zugesichert. Andere Beschäftigte kämpften noch weitere vierzig Jahre lang darum, die Bundesstaaten und Arbeitgeber_innen zur Anerkennung des Feiertags zu bewegen.  

Der Blick zurück auf diese Geschichte ruft uns in Erinnerung, welcher Kämpfe es bedurfte, nur um diesen einen Feiertag zu schaffen, und mit was für widrigen Umständen es die Arbeiter_innen und ihre Verbündeten in diesem Kampf zu tun hatten. Man sieht, inwieweit die Umstände von damals in vielerlei Hinsicht mit der heutigen Lage vergleichbar sind.

 

US-Arbeiter_innen erkämpften den Labor Day, bevor sie überhaupt eine echte Demokratie hatten

Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass die US-amerikanischen Arbeiter_innen den Labor Day erkämpften, noch bevor sie überhaupt im Besitz einer echten Demokratie waren. Die USA von der Zeit um 1900 lassen sich kaum als Demokratie bezeichnen. Afroamerikanische Männer sowie Frauen jeglicher Herkunft besaßen kein Wahlrecht. Die Möglichkeiten der Arbeiter_innen, ihr Wahlrecht auszuüben, waren begrenzt. Eigentumsvorschriften und Wahlsteuern fungierten an vielen Orten als Beschränkungen für die Wahl, und in anderen Orten übten die Arbeitgeber starken Druck auf die Wähler_innen der Arbeiterklasse aus. Der bahnbrechende Soziologe John A. Fitch stellte fest, dass es in den Industriestädten im Westen Pennsylvanias nicht ungewöhnlich war, dass die Betriebsleiter in den Stahlwerken von ihrem New Yorker Hauptquartier Anweisungen zur Stimmabgabe erhielten und dann Vorarbeiter entsandten, die die Arbeiter_innen zu den Wahlen begleiteten, damit die Anweisungen befolgt wurden. Diejenigen Arbeitnehmer_innen, die ihr Kreuz nicht an der richtigen Stelle machten, verloren ihren Arbeitsplatz. Damals war das Vereinigungs- und Verhandlungsrecht der Beschäftigten gesetzlich nicht anerkannt, und die Justiz agierte als Hilfsorgan der Macht der Unternehmer, indem sie Urteile und einstweilige Verfügungen erließ, die die gewerkschaftlichen und legislativen Reformbemühungen immer wieder zunichte machten. Unterdessen nahm die einwanderungsfeindliche Stimmung zu und gipfelte bald in den strengen Zuwanderungsbeschränkungen des Johnson-Reed-Gesetzes von 1924. 

Die Anstrengungen der Gewerkschaften, den Tag der Arbeit von einem Nationalfeiertag für einen kleinen Teil der Arbeiter_innen, wie er seit 1894 existierte, zu einem allgemein geltenden Feiertag zu machen, erforderte daher auch einen Einsatz für ein echtes Maß an Demokratie, und zwar sowohl in der Arbeitswelt als auch in der Politik. Aus diesem Grund brachte die US-amerikanische Arbeiterschaft ihre Vision für die Welt, die sie zu gewinnen suchte, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf einen Begriff. Als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, sollte er bereits allgegenwärtig sein und auch später noch die Ziele der Gewerkschaftsbewegung für Jahrzehnte prägen: die industrielle Demokratie. Die Arbeiter_innen hatten erkannt, dass das Schicksal der Demokratie sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Politik entschieden wurde – beides war miteinander verflochten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Überzeugung konnten sich der Prozess des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses von Arbeiter_innen und die Ausweitung der Demokratie im halben Jahrhundert zwischen 1918 und 1968 gegenseitig verstärken. Die Mobilisierung der Arbeiterschaft ebnete den Weg für das Frauenwahlrecht 1920, für die Bürgerrechtsbewegung in der Nachkriegszeit und das Wahlrechtsgesetz (Voting Rights Act) von 1965. Die Ausweitung der politischen Demokratie festigte derweil die Macht, die die Arbeiter_innen durch die gewerkschaftliche Vereinigung gewannen.  

 

Historische Regression? Der angeschlagene Zustand der US-Demokratie heute erinnert an die Situation um 1900

Doch in dem halben Jahrhundert seit 1968 hat diese Formel leider an Kraft eingebüßt, denn sowohl die Arbeiterorganisationen als auch die Demokratie haben neue Einschränkungen erfahren – zu ihrem beidseitigen Nachteil. Eine Gegenoffensive der Unternehmer, eine sich wandelnde Wirtschaft und ein Arbeitsrecht, das sich zunehmend als veraltet erwies, brachten die gewerkschaftliche Organisierung ins Stocken und führten zu einer stetigen Erosion der Mitgliedszahlen von Gewerkschaften. Parallel zur Schwächung der Gewerkschaften gab es eine Reihe von Gerichtsentscheidungen – von Buckley vs. Valeo (1976) bis Shelby County v. Holder (2013) –, durch die unsere Wahlen in Geld versanken, Wahlreformen untergraben und das Wahlrechtsgesetzt entkernt wurden, und die Tür und Tor öffneten für eine erneute, faktische Entrechtung der Wählerinnen und Wähler.

Der angeschlagene Zustand unserer Demokratie heute erinnert an die Situation in den USA um 1900. Die Arbeitgeber_innen kontrollieren in zunehmendem Maße das Leben der Arbeitnehmer_innen, indem sie sie sowohl am Arbeitsplatz wie auch außerhalb davon überwachen. Von den Beschäftigten kann nun als Bedingung für ihre Anstellung verlangt werden, dass sie „Vereinbarungen zum Wettbewerbsverbot“ unterzeichnen, also Einschränkungen des Rechtes, zugunsten eines besseren Arbeitsplatzes zu kündigen. Sie können auch gezwungen werden, Schlichtungsregelungen zu akzeptieren, anstatt ihre vollen Rechte gemäß des National Labor Relations Act wahrzunehmen. So wundert es nicht, dass Karen Anderson zu dem Schluss gekommen ist, die Arbeitsplätze in den USA entwickelten sich zunehmend zu Diktaturen, in denen „die Arbeitgeber die Arbeitnehmer nicht nur regieren, sondern sie beherrschen“. Und Alex Hertel-Fernandez zufolge sind die Arbeitgeber auch zu einer Politik des Kräftemessens zurückgekehrt, wie sie 1910 von John Fitch dokumentiert wurde. Ob Arbeiter_innen gezwungen werden, für einen politischen Kandidaten zu posieren, der ihren Arbeitsplatz für einen „Fototermin“ besucht; ob sie gedrängt werden, Briefe an Abgeordnete zu schreiben, in denen sie gegen Gesetze protestieren, die ihrem Arbeitgeber unliebsam sind, oder ob sie genötigt werden, für die von den Arbeitgebern favorisierten Kandidat_innen zu stimmen: Die Arbeitnehmer_innen sind zunehmend dem Druck der Menschen ausgesetzt, die ihre Gehaltsschecks unterschreiben. Heute, wie schon vor mehr als einem Jahrhundert, bedarf es nichts Geringeres, als die zunehmend leeren Versprechen der Demokratie wieder Realität werden zu lassen.

Am Tag der Arbeit 2020, inmitten dieser schwindelerregenden Krise, sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen, enorm und gewaltig – aber sie sind nicht ohne Beispiel. Und die Geschichte lässt erahnen, dass die Zukunft, die wir in diesem entscheidenden Jahrzehnt gestalten werden, nur zu einem gewissen Teil durch die Wahlergebnisse in zwei Monaten bestimmt wird. Wer auch immer sich durchsetzt, unser Ziel für das kommende Jahrzehnt muss sein, den gemeinsamen Kampf wiederaufzunehmen, der vor einem Jahrhundert der Motor des Fortschritts gewesen ist, das heißt den Kampf um Mitsprache am Arbeitsplatz und in der Politik. So verteidigen wir das Gemeinwohl und erobern uns jene hellere Zukunft, deren Schimmer selbst in diesen finsteren und turbulenten Zeiten zu sehen ist. 

 

Joseph A. McCartin ist Professor für Geschichte und Exekutivdirektor der Kalmanovitz Initiative for Labor & the Working Poor an der Georgetown University. Zuletzt erschien, inzwischen in der 9. Auflage, sein Buch Labor in America, gemeinsam verfasst mit Melvyn Dubofsky.

Aus dem Amerikanischen von Birthe Mühlhoff

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